Einführung:
Mit folgendem Beitrag möchte unsere BI an ein Ereignis vom 12.09.1986, an das dann folgende persönliche Leid von an Leukämie erkrankten Kindern und deren Familien sowie an die Enttäuschungen von Bürgern bei der Aufklärung dieses Ereignisses erinnern, da es wahrscheinlich im Zusammenhang mit militärischer Forschung stand. Dieser Beitrag basiert insbesondere auf den im Anhang zitierten Dokumenten.
12. September 1986: Ein Atomunfall den es in der Elbmarschregion nicht geben durfte
Seit den 50iger Jahren forschten in der „Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt“ (GKSS) ehemalige Nazi Atomwissenschaftler wie Bagge und Diebner. Dort wurde nicht nur das einzige mit Atomkraft angetriebene Frachtschiff, die Otto Hahn, gebaut, sondern in dem 15 MW-Forschungsreaktor an der Weiterentwicklung der friedlichen und (militärischen!) Nutzung der Atomtechnik gearbeitet. Wobei der militärische Aspekt der strengsten Geheimhaltung unterlag; denn in Deutschland war es laut internationalen Abkommen verboten an Atomwaffen zu forschen.
Am 12. September 1986 kam es zu einem bis heute nicht geklärten Atomunfall auf dem Gelände der GKSS, was nur ein paar hundert Meter vom AKW Krümmel entfernt liegt. Die Feuerwehren aus dem Kreis Geesthacht und aus Hamburg mussten anrücken. Anwohnerinnen berichteten von einer Explosion und weit sichtbare Flammen stiegen hoch. Der Brand wurde binnen eines Tages gelöscht. Was die Ursache des Brandes war und wo genau er sich ereignete, bleibt bis heute ungeklärt. Denn auch die diesbezüglichen Akten der Hamburger Feuerwehr wurden bei einem Brand 1991 angeblich vollständig vernichtet.
Die Betreiber des AKW Krümmel und der GKSS begannen ein systematisches Verwirrspiel gegenüber der Öffentlichkeit, mit Verdrehungen, Geheimhaltungen und einfachen Lügen. So behauptete der Betreiber des AKW drei Tage später in der Lokalzeitung: es könne „definitiv ausgeschlossen werden, dass der Anstieg der Radioaktivität im Werk selbst verursacht worden sei.“ Dass der Brand im benachbarten Atomforschungszentrum sich ereignete, verschwieg der Sprecher.
Es wuchs Gras über den Unfall. Doch ab 1990 meldeten die lokalen Ärztinnen eine sehr auffällige Häufung von Leukämieerkrankungen in der Region. Innerhalb eines Umkreises von 5 km um die GKSS stellten die alarmierten Wissenschaftlerinnen die höchste Dichte an Leukämieerkrankung weltweit fest! Insgesamt wurde bei 15 Kindern die Krebserkrankung diagnostiziert. Normalerweise kommt die Leukämie bei 0.42 Kindern in 2 Jahren (so der IPPNW) vor (siehe Abbildung).
Die von der Bürgerinitiative Leukämie beauftragten Wissenschaftlerinnen untersuchten ab 1991 die Elbmarschregion und stellten in den Baumstämmen eine auffällige Schwärzung in den Jahresringen der Stämme fest, die auf einen radioaktiven Fallout zurück zu führen waren und zeitlich genau übereinstimmten mit dem Jahr des Atomunfalls. Zusätzlich wurden über 100, 1-2 mm große Kügelchen auf einigen Dächern der Häuser im 5 km-Umkreis der GKSS gefunden. Und diese Kügelchen hatten es in sich. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen fanden im Inneren radioaktive Isotope und zwar hochangereichertes Plutonium, Americium und Curium, sogenannte PAC- Kügelchen, die in der Militärforschung für Miniatombomben verwendet werden.
In den beiden Bundesländern Schleswig-Holstein und Niedersachsen wurden ab 1992 Fachkommissionen Leukämie einberufen. In dem Abschlussbericht von 2004 für Schleswig-Holstein heißt es: „Auf Dachböden der Samtgemeinde Elbmarsch wurden Plutoniumisotope und Americium festgestellt, deren Zusammenhang ausschließt, dass es sich um den durch Fallout der früheren Atomtests verursachten Background handelt. Diese Transurane können jedoch auch nicht aus dem KKK-Betrieb stammen“ (gemeint ist das AKW Krümmel). Ganz im Gegensatz zu den Untersuchungsberichten der Wissenschaftlerinnen wiesen beide Landesregierungen die vermutete Herkunft der hochangereicherten Nuklide aus dem Atomunfall in der GKSS vehement zurück.
Die physikalisch absurdesten Theorien wurden in die Welt gesetzt. Die Radioaktivität sei auf frühere Atomtests zurück zu führen, das AKW sei mit Radon 1986 verstrahlt worden und dies hätte im Reaktor zur Emissionen der Transurane geführt. Physikalisch einfacher Blödsinn.
Im Jahr 2006 fassten einige der beteiligten Wissenschaftlerinnen und die Bürgerinitiative in einer Expertise des IPPNW ihre Ergebnisse zusammen: „Nach unseren Erkenntnissen entstammen sie einem Experiment, bei dem die Prinzipien der Kernspaltung (wie im Atomkraftwerk) und der Kernfusion (wie bei der Wasserstoffbombe) kombiniert werden sollten. Diese Entwicklungslinie („Hybridreaktor“), die der besseren Ausnutzung der vorhandenen natürlichen Kernbrennstoffe dienen sollte, wurde bis in die 1980er Jahre noch international verfolgt. Sie wurde später wegen der Proliferationsgefahr verlassen.“
Damit dürfte auch klar sein, warum bis heute die verantwortlichen Politiker einen Mantel des Schweigens über diesen Atomunfall legen.
Und nun?
- Die Leukämie Häufung in der Elbmarsch hat Eingang in die Liste der weltweiten Leukämie-Cluster gefunden. Ein unrühmlicher Fakt, den keiner braucht.
- An Standorten mit stillgelegten AKW sinkt die Leukämierate der Kinder langsam.
Doch das Leukämie-Cluster in der Elbmarsch bleibt und hinterlässt offene Fragen (Russo at al). - Sollte jemals der Grund für das Leukämie-Cluster in der Elbmarsch offengelegt werden, dann werden die Verantwortlichen wohl nicht mehr leben.
Abbildung:
Abb.2 Zeitliche Entwicklung der kindlichen Leukämiefälle im 5 km-Umkreis (Erkrankungen im Zweijahreszeitraum); durchgezogene Linie: Normalwert nach Deutschem Kinderkrebsregister Mainz aus Die Elbmarschleukämien - Stationen einer Aufklärung Dokumentation" 2006
Vertiefende Dokumente:
Abschlussbericht der Fachkomission zur Leukämie-Häufung bei Kindern vom 15. September 2004:
https://www.bag-energie.de/cms/geesthacht-abschlussbericht-der-fachkomission-zur-leukamie-haufung-bei-kindern/
EXPERTENKOMMISSION und ARBEITSGRUPPE BELASTUNGSINDIKATOREN: "Gemeinsamer Abschlussbericht Untersuchungsprogramm Leukämie in der Samtgemeinde Elbmarsch November 2004"
https://media.frag-den-staat.de/files/foi/103394/2004-11Elbmarschbericht_Nds_LangExpertenkommission.pdf
Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch e.V. Gesellschaft für Strahlenschutz e.V. IPPNW – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.: "Die Elbmarschleukämien - Stationen einer Aufklärung Dokumentation" 2006:
https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/ElbmarschDokumentation2.8MB.pdf
ZDF-Dokumenation: "Und keiner weiß warum - Leukämietod in der Elbmarsch (2006)"
gespeichert unter youtube: https://www.youtube.com/watch?v=HGfjIv-XMEk
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 16/2515 – (22. 09. 2006) "Erhöhte Strahlenbelastungen am 12. September 1986 in Geesthacht und Auftreten einer erheblichen Zahl von Leukämiefällen bei Kindern seit 1990"
https://dserver.bundestag.de/btd/16/026/1602665.pdf
Gegenwind 224, Mai 2007: "Leukämie in der Elbmarsch. Ein selbst gemachtes Rätsel?"
https://gegenwind.info/224/geesthacht.html
Russo A, Blettner M, Merzenich H, Wollschlaeger D, Erdmann F, Gianicolo E.: "Incidence of childhood leukemia before and after shut down of nuclear power plants in Germany in 2011: A population-based register study during 2004 to 2019". Int J Cancer. 2023;152(5): 913‐920.
https://doi.org/10.1002/ijc.34303