Das Strahlenschutzgesetz von 2017 gab mit § 98 folgenden gesetzlichen Auftrag:

"Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit bewertet mögliche Notfallexpositionssituationen. Auf seinen Vorschlag erlässt die Bundesregierung einen allgemeinen Notfallplan des Bundes. Der allgemeine Notfallplan des Bundes wird als allgemeine Verwaltungsvorschrift mit Zustimmung des Bundesrates beschlossen."

Nun ist es endlich soweit. Sechs Jahre nach obigem Auftrag hat die Verwaltungsvorschrift mit dem sperrigen Namen "Allgemeine Verwaltungsvorschrift für einen Allgemeinen Notfallplan des Bundes nach § 98 des Strahlenschutzgesetzes (ANoPl-Bund)" das Licht der Welt erblickt!

Dass eine solche Verwaltungsvorschrift auch nach Abschaltung der letzten deutschen AKW's notwendig ist, erkennt man an den zugrunde gelegten Notfall-Referenz-Szenarien:

  • S1 – Notfall in einem deutschen Kernkraftwerk (vor Brennelementfreiheit)
  • S2 – Notfall in einem Kernkraftwerk im grenznahen Ausland (in bis zu 100 km Entfernung von der deutschen Grenze)
  • S3 – Notfall in einem Kernkraftwerk auf dem europäischen Kontinent (in mehr als 100 km Entfernung von der deutschen Grenze)
  • S4 – Notfall in einem Kernkraftwerk außerhalb des europäischen Kontinents
  • S5 – Notfall in einer ortsfesten Anlage oder Einrichtung im In- und Ausland mit besonderem Gefahrenpotential, die nicht unter S1 bis S4 fällt
  • S6 – Notfall im Zusammenhang mit sonstigen Tätigkeiten nach § 4 StrlSchG oder vergleichbaren Tätigkeiten nach ausländischem Recht oder
    S7 – Transportunfall an Land oder
    S8 – Sonstiger Notfall mit radioaktiven Stoffen oder mit radioaktiven Kontaminationen
  • S9 – Absturz eines Satelliten oder Raumfahrzeugs mit radioaktivem Material
  • S10 – Notfall auf einem Oberflächengewässer
  • S11 – Notfall auf oder in Meeresgewässern
  • S12 – Vorsätzliche Straftat im Zusammenhang mit radioaktiven Stoffen ohne Bezug zu einer kerntechnischen Anlage oder Einrichtung
  • S13 – Vorsätzliche Straftat, Störmaßnahme oder sonstige Einwirkung Dritter gegen oder auf eine Einrichtung oder kerntechnische Anlage
  • S14 – Nuklearwaffenexplosion
  • S15 – Sonstiger Notfall beim Umgang mit einer Nuklearwaffe

Anbei einige Anmerkungen:

Interessant ist, dass obige Verwaltungsvorschrift bei einem Notfall nach S14 und S15 (Nuklearwaffenexplosion) im Zusammenhang mit Spannungs- oder Verteidigungsfällen NICHT greift und anstelle dessen auf die Konzepte zum Zivilschutz verweist. Aber schauen Sie sich die Bilder von Hiroshima und Nagasaki an - in diesen Fällen kann man alle Konzepte, Richtwerte und Grenzwerte vergessen!
Beachtlich ist allerdings für obige Verwaltungsvorschrift, dass man in das Referenz-Szenario S14 – Nuklearwaffenexplosion bewusst "vorsätzliche Ereignisse mit kriminellem oder terroristischem Hintergrund inklusive einer damit einhergehenden glaubhaften Drohung des Einsatzes einer Nuklearwaffe auf dem Bundesgebiet und angrenzenden Gebieten" einschließt.

Lesenswert ist der Abschnitt G. 1 "Erläuterungen zu Grenz- und Richtwerten". So klar findet man die rechtliche Interpretation dieser Begriffe weder im Strahlenschutzgesetz, noch in der Strahlenschutzverordnung, noch in Wikipedia oder im Glossar des Bundesamtes für Strahlenschutz. Und in dieser Verwaltungsvorschrift wurden alle geltenden radiologischen Kriterien zusammengefasst dargestellt.

Natürlich greift obige Verwaltungsvorschrift auf die bekannten Schutzmaßnahmen:

  1. Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden,
  2. Aufforderung zur Einnahme von Jodtabletten,
  3. Evakuierung

zurück. Doch insbesondere die "Aufforderung zur Einnahme von Jodtabletten" ist schnell in so eine Vorschrift geschrieben. In der Realität wird es aber schwer, dass die Jodtabletten zum richtigen Zeitpunkt rechtzeitig vor dem Überqueren der radioaktiven Wolke der Bevölkerung bereitstehen. Die IPPNW schreiben dazu:

"Optimal ist die Wirkung einer hoch dosierten Jod-Einnahme etwa 3 bis 6 Stunden vor der radioaktiven Belastung. Möglich ist bei unsicherer Informationslage auch ein früherer Beginn, aber verbunden mit Folgeeinahmen. Eine Einnahme 3 Stunden nach Eintreffen der Wolke wirkt nur noch zu 50 % und 10 Stunden danach gar nicht mehr. Eine zu frühe Einzeleinnahme ohne Folgeeinnahme reduziert die Wirkung der Jodblockade, da Jod vom Körper kontinuierlich ausgeschieden wird und die Sättigung der Schilddrüse mit der Zeit wieder abnimmt. Ein zu später Beginn kann sogar schaden, da die Eliminierung des radioaktiven Jods verzögert und dessen schädliche Wirksamkeit verstärkt werden kann." (IPPNW-Empfehlung bei Atomreaktorunfällen zum Schutz der Schilddrüse mit speziellen Jod-Tabletten (Jodblockade) vom 07.02.2021).

Wenig verwunderlich ist es für den föderal organisierten Katastrophenschutz, dass in diesem Text das Wort "zuständig" über 450x verwendet wurde. Man kann hoffen, dass diese komplexen Zuständigkeitsstrukturen im Ernstfall in dem notwendigen Tempo zusammen arbeiten. Aus diesem Grund hat man in dieser Allgemeinen Verwaltungsvorschrift ganze 30 Seiten den Kapiteln "Informationsaustausch, Koordinierung und Zusammenarbeit" sowie "Krisenkommunikation" gewidmet.

Seit 2017 hatten die Länder nach § 100 des Strahlenschutzgesetzes den Auftrag: "Die Länder stellen allgemeine und besondere Notfallpläne auf. Diese Notfallpläne der Länder ergänzen und konkretisieren den allgemeinen Notfallplan des Bundes und die besonderen Notfallpläne des Bundes, soweit die Länder für die Planung oder Durchführung von Schutzmaßnahmen zuständig sind." Das Land Berlin hat seit 2020 einen "Strahlenschutzvorsorgeplan". Da Berlin nur das eine Szenario "Ereignis in einer kerntechnischen Anlage außerhalb von Berlin" betrachtet hat, scheint eine umfangreiche Überarbeitung notwendig zu sein.

Link zur Allgemeinen Verwaltungsvorschrift für einen Allgemeinen Notfallplan des Bundes nach § 98 des Strahlenschutzgesetzes
https://www.bundesrat.de/drs.html?id=393-23(neu)