Wir sind eine BI, die jahrzehntelang sich mit den Gefahren eines Forschungsreaktors auseinandergesetzt hat und selbstverständlich haben wir uns auch gegen AKWs und alle anderen Atomanlagen positioniert. Über viele Jahre hinweg sind wir dabei in die Auseinandersetzung mit Naturwissenschaftlern gegangen. Dieser Umstand erforderte nicht nur eine technische Expertise und eine gesellschaftliche Skandalisierung der Nutzung von Atomtechnologie, sondern auch das Hinterfragen vermeintlich objektiver naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Dazu gehört die Problematisierung des naturwissenschaftlichen Weltbildes derjenigen, die mit hoch radioaktiven Brennstäben und einer nicht beherrschbaren Technologie am Rande des Stadtgebietes von Berlin hantiert haben.
Wir sind der Ansicht, dass über die spezifische interessensgeleitete Denkstruktur, die ein solches Handeln ermöglicht, letztendlich bei vielen Beteiligten reichlich Unklarheit besteht. Deswegen scheint uns eine Verständigung und Weiterbildung über diesen Aspekt dringend geboten. Vor allem und auch gerade, weil wir es mit einem Forschungsreaktor zu tun hatten und die Forschungen mit radioaktivem Material an anderen Orten (siehe Garching oder Livermore) weitergehen.
Dieses spezielle Themenfeld ist schon eine besondere Note unserer BI. Deshalb haben wir unter dem Titel „Wissenschaftskritik“ einige Texte zum Thema zusammengetragen und als Download "Naturwissenschaftliches Denken und Handeln als Herrschaftsinstrument" (2,3 MB; 83 Seiten) bereitgestellt.
Nachfolgend eine Leseprobe des ersten Kapitels:
Vorwort
Was erwartet die Leser unter dem Titel „Wissenschaftskritik“?
Ein Versuch
In diesen vier Schriften versuchen wir, einem verloren gegangenen Wissen nachzuspüren. Uns ist bewusst, dass dies durchaus eine anstrengende Lektüre werden wird. Warum haben wir dennoch diese Schriften verfasst?
Die Bürgerinitiative (BI) ist in eine neue Phase des Dialogs mit den Wissenschaftlern und den politisch Verantwortlichen getreten. Für die BI-Arbeit geht es in den nächsten Jahren sehr viel um den Rückbau des Atomreaktors Wannsee und um die Frage, wohin mit dem Atommüll.
Unsere Schriften sollen die BI für diese Auseinandersetzung stärken. Zunächst einmal wird es in den Kontroversen mit Wissenschaftlern immer um diese Fragekomplexe gehen:
- Welche Interessen stehen hinter dem jeweiligen Forschungsprojekt?
- Welche hegemonialen Interessen verbergen sich hinter dem wissenschaftlichen Diskurs?
- Welche Auswirkungen haben die Ergebnisse für das HZB, Mensch und Umwelt?
- Welche wissenschaftliche Vorgeschichte hat die jeweils spezielle Forschungsfrage?
- Welche Aspekte bleiben unberücksichtigt (→ Debatte um die Atommüllendlagerung)?
Aneignung und Kommunikation von Fachwissen sowie die Skandalisierung machen viel Arbeit. Das ist alles wichtig und drückt die fachlichen Kernkompetenzen eigentlich einer jeden BI aus. Wir erachten allerdings auch noch etwas anderes für wichtig.
Wir sind eine BI, die jahrzehntelang sich mit den Gefahren eines Forschungsreaktors und angewendeten Forschungsergebnissen auseinandergesetzt hat und selbstverständlich haben wir uns auch gegen AKWs und alle anderen Atomanlagen positioniert. Aber zusätzlich hatten wir es auch immer mit forschenden Naturwissenschaftlern zu tun und das wiederum erfordert unseres Erachtens nicht nur eine technische Expertise und eine gesellschaftliche Skandalisierung der Nutzung von Atomtechnologie. Gerade weil es sich um einen Forschungsreaktor handelt, sollten wir auch das naturwissenschaftliche Weltbild derjenigen problematisieren, die als Naturwissenschaftler mit hoch radioaktiven Brennstäben am Rande des Stadtgebietes von Berlin hantiert haben. Wir sind der Ansicht, dass über die spezifischen Denkstrukturen, die ein solches Handeln ermöglichen, eine Auseinandersetzung notwendig ist, vor allem und auch gerade, weil wir es mit einem Forschungsreaktor zu tun haben. Das ist schon eine besondere Note unserer BI.
Ein naturwissenschaftliches Weltbild
Diesem Weltbild und seinen kulturgeschichtlichen Denkvoraussetzungen wollen wir mit unseren Schriften auf die Spur kommen, es kritisieren und nebenbei auch ein paar Lockerungsübungen für alle diejenigen vorschlagen, deren Herz immer noch links oder grün alternativ schlägt. Denn unseres Erachtens herrscht auch in diesen Kreisen ein nicht ganz unproblematisches Wissenschafts- und Naturverständnis. Ein Verständnis, das ganz schmerzfrei bürgerliche Standards und Methodologien nutzt, also des Gegners Vokabular. Machen wir uns nichts vor: wer von uns vermag sich schon vorzustellen, wie oft in den letzten zweieinhalbtausend Jahren europäischer Kulturgeschichte sich unser Verständnis von Natur verändert hat und wohin diese unterschiedlichen Wege jeweils führten? Wer von uns hat je schon einmal ernsthaft darüber nachgedacht, wo „unsere exakten Naturwissenschaftler“ ihre vermeintlich objektiven, wertfreien Grundsätze herhaben? Historisch abgeleitet sind sie jedenfalls nicht. Uns kam dazu eine ketzerische Frage in den Sinn: Sollten es gar einfache Glaubenssätze sein, die sich mit Exaktheit lediglich schmücken, wo eigentlich eher unbewiesene Behauptungen, also Aporien vorliegen? Eine ziemlich ketzerische Frage …
Komplizierte Zusammenhänge
Eine wesentliche Schwierigkeit bei der Abfassung unserer Schriften bestand darin, die äußerst komplizierten Zusammenhänge in einem überschaubaren Rahmen darzustellen. Das ging nicht ohne Verkürzungen und Auslassungen. Wir hoffen aber, dass der Argumentationsgang trotz diverser Engführungen verständlich bleibt. Eine der gravierendsten Verkürzungen besteht darin, dass wir der Kritik an der Denkform mehr Platz einräumen werden als einer Kritik der dahinter stehenden gesellschaftlichen Strukturen. Das hängt mit unserem Hauptanliegen zusammen: der Auseinandersetzung mit Naturwissenschaftlern und deren Naturverständnis. Unsere besondere Aufmerksamkeit wird sich auf die Voraussetzungen intellektueller Kopfarbeit und deren Ergebnissen bei der Bearbeitung von Naturvorgängen richten.
Wie gesagt, die notwendigen Vermittlungsschritte von dieser Denkform zur Warenform, ihre wechselseitig gesellschaftliche Bedingtheit wären weitere Themen. Dann würde eine Diskussion um Entstehung und Interpretation von Tauschbeziehungen und ihre Einbettung in den historischen Zusammenhang anstehen. Um hier eine gewisse Erdung zu unserer Theorielastigkeit herzustellen, haben wir den geschichtlichen Kontext zumindest immer wieder kurz einfließen lassen. Deshalb empfehlen wir, das Kapitel DER BOGEN IST GESPANNT, DIE PFEILE ABER NOCH IM KÖCHER aus unserer zweiten Schrift im Anschluss an dieses Vorwort zu lesen. Ihr werdet dort auf sehr bekannte Themenfelder treffen, denn einige Inhalte muten merkwürdig aktuell an …
Des Weiteren stünden natürlich Fragen zur Moral an: Welchen ethischen Leitbildern folgt ein (Natur-) Wissenschaftler, zumal einer der Physik? Bei Bearbeitung all dieser Themen wäre sicherlich die schwerst erarbeitete Übersichtlichkeit wieder perdu gegangen. Und das wollten wir nun auch wieder nicht.
Denken als Tu-Wort | Es wird täglich gemacht
Abbildung 2: Tag X im Wendland
Nicht unerwähnt bleiben sollte an dieser Stelle der Hinweis auf durchaus andere vorliegende Konzepte zur Wissenschaftskritik. Die hier vertretene Meinung spiegelt, zumindest momentan, keinen Diskussionsprozess oder gar Konsens innerhalb der BI wider. Das nehmen wir alles auf unsere eigene Kappe. Jahre redlich intellektuell geleisteter Arbeit liegen nun in knapper Form und hoffentlich lesbar, vor Euch …
Wir mögen jetzt arg theoretisch rüberkommen, können aber glaubhaft versichern, dass wir unsere mittlerweile leicht ergrauten Haare auch in sehr praktischen Kämpfen und Auseinandersetzungen zu den verschiedensten Anlässen im Anti-AKW-Kampf erworben haben. Darum wird es in unserer ersten Schrift gehen: über unsere Erfahrungen in der Anti-AKW-Bewegung.
Den Bogen spannen
Die zweite Schrift erinnert an einen mittlerweile fast vergessenen Denkansatz aus dem Jahr 1992 und stellt diesen anschließend ausführlich vor. Es wird ein sehr weiter Bogen gespannt. Kulturelle Entwicklungen, die ihren Anfang schon in der späten Bronzezeit nehmen, werden dabei in den Blick geraten. Gleichsam fokussierend auf paradigmatische Entwicklungen zur beginnenden Eisenzeit und in der darauf folgend frühen griechischen Antike samt Umfeld bis ca. 500 v. Chr. Mit Hilfe des marxistischen Theoretikers Alfred Sohn-Rethel wird hier versucht, die Plausibilität einer „neuen Denkform“ darzustellen. Als Denk-Lockerung erschien uns für diesen etwas ungewöhnlichen Weg ein Einstieg über ostasiatische Sprachbefindlichkeiten hilfreich. Diese Lockerungen waren als Flaschenpost längst auf unserer Website veröffentlicht. Ein letzter Hinweis zum »Umweltschutz« sollte als Ergänzung alles Weitere in eine einfache Spur bringen. Soweit der Plan …
In der dritten Schrift versuchen wir uns an einer kurzen Darstellung von drei sehr unterschiedlichen Naturbegriffen. Der erste thematisiert Herrschaft über Frau und Natur, der zweite die Dialektik der Aufklärung und der dritte schaut, was es mit dem Begriff „Buen Vivir“ der indigenen Völker Südamerikas auf sich hat.
Die Spannung halten
Die vierte und schließlich letzte Schrift lässt die Überlegungen aus den vorhergehenden Schriften auf der Hintergrundspur zwar mitlaufen. Das lässt sich nach Lektüre des ersten Aufsatzes unschwer auch am Titel erkennen: »Wissenschaft und Macht – Vernunft und Objektivität und die Unterwerfung der Natur“. Aber nun kommt mehr die Neuzeit in den Blick. Mit Bacon, Galilei und Descartes werden die Positionen neuzeitlicher Wissenschaften beleuchtet. Ebenfalls im Blick haben wir eine fast noch zeitgenössische Position von Horkheimer und Adorno aus ihrem Buch „Dialektik der Aufklärung". Daraus zwei Sätze wie in Stein gemeißelt:
“Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel erfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.”
Geschrieben wurden diese Sätze 1947, nach ihrer Rückkehr aus dem Exil und den Erfahrungen des Faschismus. Zu guter Letzt lassen wir Michel Foucault zu Wort kommen. Er fragt nach den Machtansprüchen, die in jeglichen Diskursen sich verstecken, auch und gerade in denen der Naturwissenschaftler. Das Aktuellste, was wir zu bieten haben: unsere Kritik am »march of science«.
Das Ganze wird ein ziemlicher Parforceritt durch die Jahrhunderte werden, aber durchaus mit Aussicht auf ein paar neue Sichtweisen. Und mal ehrlich: ist das Thema Wissenschaftskritik auf fatale Weise nicht immer aktuell? Diese vierte Schrift bleibt also in der gleichen Spur. Wir haben lediglich das Kaleidoskop ein klein wenig weiter gedreht.
Da dies keine wissenschaftliche Abhandlung ist, haben wir auch nicht den Anspruch, die jeweils neuesten Neuigkeiten zum Thema abbilden zu wollen. Unsere vier Schriften sind im Frühjahr 2023 entstanden und werden im Wesentlichen unverändert bis auf Weiteres auf unserer Website zu finden sein. Was eine Fortsetzung, in welcher Form auch immer, natürlich nicht ausschließt.
Wohl bekomm’s und viel Spaß beim Nach – und Mitdenken unserer Überlegungen
Udo und Hauke
Download "Naturwissenschaftliches Denken und Handeln als Herrschaftsinstrument" (2,3 MB, 83 Seiten)