Erinnerung an einen mittlerweile fast vergessenen Denkansatz aus dem Jahr 1992.
Naturwissenschaft hat, wenn sie sie denn je besaß, längst ihre Unschuld verloren. In diesem Sinne äußerten sich deutsche Kernphysiker nach dem Zweiten Weltkrieg in einem britischen Internierungslager. Um zu dieser Einsicht zu gelangen bedurfte es allerdings erst des Abwurfes zweier Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Mit diesem Ereignis und seinen verheerenden Folgen war den Wissenschaftlern um Heisenberg (> Erich Bagge, Kurt Diebner, Walter Gerlach, Otto Hahn, Paul Harteck, Horst Korsching, Max von Laue, Carl Friedrich von Weizsäcker und Karl Wirtz) "schlagartig bewußt geworden", daß ihre naturwissenschaftliche Forschung auch eine politische und gesellschaftliche Dimension hat. Aber nicht alle haben daraus die erwartbare Konsequenz gezogen: Kurt Diebner und Erich Bagge, die, wie allen anderen genannten Wissenschaftler auch, bereits im Nationalsozialismus (Heereswaffenamt ) führend tätig waren, verweigerten sich 1957 der "Göttinger Erklärung" von achtzehn Naturwissenschaftlern. In dieser Erklärung wurde zum Verzicht auf militärische Atomforschung aufgerufen. Mindestens diese beiden Wissenschaftler haben denn auch nach Kriegsende bruchlos und ohne biographische Zäsuren ihre Forschungen im deutschen Atomforschungszentrum Geesthacht (heute GKSS-Forschungszentrum Geesthacht) fortsetzen können. Und selbst bei den Unterzeichnern, zu denen von Weiszäcker und Heisenberg gehören, sind Zweifel an ihrem vorgetragenen Ethos bis auf den heutigen Tag geblieben. Denn gemeint war in dieser "Erklärung" eben nur der militärische Aspekt ihrer bisherigen Forschungen. Die behauptete Trennung von friedlicher und militärischer Nutzung der Atomtechnologie hat hier ihren Anfang und erweist sich für die nächsten Jahrzehnte als probate Strategie ihrer legitimatorischen Durchsetzung. Dennoch ist diese vielleicht folgenreichste ‘Einsicht’ der Naturwissenschaft im öffentlichen Diskurs vielfach, wenn auch noch nicht erschöpfend, thematisiert worden. Die unselige, aber innige Verbindung von naturwissenschaftlicher Forschung, Krieg und Rüstung sowie Politik ist exemplarisch in den kriegerischen Konflikten der jüngsten Vergangenheit zum Teil auch medienwirksam deutlich geworden.
Denk-Klippe
Diese Flugschrift versucht zu zeigen, daß Naturwissenschaft über diese inzwischen vielfach diskutierte Verknüpfung von Politik, Krieg und Rüstung durchaus noch viel weitergehend und tiefer mit anderen gesellschaftlichen Prozessen verbunden ist. Sie ist ein wesentliches Instrument von Herrschaft. Verweise auf große Cluster mit fragwürdigen Forschungszielen ( > z.B. Militärisch-Industrieller Komplex), Kritik an eingeengter Wissenschaftsfreiheit und mangelnder (oder gar nicht vorhandener) ethischer Verantwortlichkeit in den Naturwissenschaften mag zwar notwendig und richtig sein, benennt aber nicht das ganze Problem. Denn diese moralischen Appelle, die auf eine als möglich erachtete vorgeblich emanzipierte Neutralität der Wissenschaft hoffen, sind nur die eine, operationelle Seite der Medaille. Die andere Seite der gleichen Medaille ist die spezifische Art naturwissenschaftlichen Denkens. Kurz, auf dieser Seite der Medaille steht eine sehr spezifische Denkform zur Disposition: Ihre Art der Naturbeschreibung, ihre Methodik der Problemformulierung und ihres Weges zur Lösung. Es ist eine erkenntnistheoretische Kritik, die auf den Wahrheitsbegriff der Naturwissenschaften allgemein zielt und die Subjektivität des forschenden Naturwissenschaftlers nicht ausklammert.
In dieser Flugschrift wird Beides, sowohl naturwissenschaftliches Forschen und naturwissenschaftliches Denken in ihrer Verschränkheit als Instrumente politischer Herrschaft aufgefasst. Uns ist bewußt, das diese behauptete Zusammengehörigkeit von praktischem Forschen und der Denkform, die diesem Forschen zugrunde liegt, für manche Leser des Textes eine anspruchsvolle Denk-Klippe darstellen könnte. In unseren Augen allerdings eine sehr produktive...
Die vorliegende Flugschrift ist 1991 diskutiert und verfasst worden. Zu einer Zeit also, als der darin vertretenen Ansatz in den kritischen Geisteswissenschaften noch lebhaft und durchaus kontrovers diskutiert wurde. Eine zeitgleiche Diskussion, die sowohl den ersten Aspekt, als auch beide Aspekte gleichwertig thematisierte wurde im naturwissenschaft-lichen Kontext (hier: dem der Physik) nur sehr rudimentär geführt. In den Folgejahren verbesserte sich dies zwar ein wenig, aber das Thema blieb weiterhin sowohl im mainstream bürgerlicher Theoriebildung (!) als auch in kritischen linken und grünen Diskussionszusammenhängen nur ein sehr randständiger Bereich des Diskurses.
Da dieser Text schon vor ca. 27 Jahren verfasst/ veröffentlicht wurde können viele der angeführten Beispiele ihre eigene Historizität nicht verleugnen. Aber gerade diese Tatsache trifft u. a. auch das Kernthema der Flugschrift: die Historizität allen Handelns und Denkens! Die Vorstellung, naturwissenschaftliches Handeln z. B. in einer Wissenschaftsgeschichte kritisch aufzuarbeiten und zu historisieren, fällt nicht schwer. Aber auch naturwissenschaftliches Denken hat seine eigene Geschichte, seine eigene Zeit und ist damit ebenfalls historisch aufzufassen. Es ist sehr unterschiedlichen Weltbildern und Wahrnehmungsmustern ausgesetzt und damit auch schwerstens ideologisch belastet. Mit Beginn philosophischer Reflexionen über den Wahrheitsbegriff in der Antike hat es sich ständig wechselnden Erkenntnisinteressen und wechselnden Wahrheitsbegriffen anpassen müssen. Naturwissenschaftliches Denken ist ein wesentliches Instrument von Herrschaft. Die Vorstellung eines soziologischen Blickes auf diese Denkform fällt da schon schwerer. Er soll hier gewagt werden.
Die nun folgende Wiederveröffentlichung der Flugschrift will an diesen mittlerweile fast vergessenen Denkansatz erinnern und anknüpfen.
Flugschrift Naturwissenschaft als Herrschaft
Thesen- & Diskussionspapier zu einer verantwortlichen Naturwissenschaft (April 1992)
AutorInnen-Kollektiv: Jorg Meyer, Wolfgang Wanner, Gerald Neitzke, Petra Lucht
Ein PDF steht zum freien Download zur Verfugung unter: www.tu-berlin.de/zifg
Oder zu Kaufen z.B. bei Amazon